Und so ist es wohl auch gemeint. Vom Minister, der dieses umfangreiche Werk in rund 7 Monaten hat aus dem Boden stampfen lassen. Von der "Zivilgesellschaft", Organisationen, Verbänden, Kirchen, Menschen die im Internet kommentieren sollten.
Und dann dürfen sie sich alle treffen an jenem 24.November, die engagierten Weltverbesserer, die die Probleme der Welt mit Anstrengungen aus Deutschland lösen wollen. Hunger, Armut, Bildung, Umwelt. Sie dürfen sich und ihre Ideen in einer Halle präsentieren, sich ein wenig selbst feiern, perfekt organisierte Staffage für die Politik sein, die sich trotz allem als Star der Veranstaltung versteht. Ein Come Together der leuchtenden Augen junger Menschen und Hände schüttelnder alter Hasen in der Berliner STATION.
Die jungen Menschen werden einen halben Tag bestens unterhalten, mit Spielen, bunten Ständen und Workshops. Alles riecht so schön nach gemeinsamem Ändern, Kämpfen, Helfen. Allein die "Zukunftscharta", um die es eigentlich geht, tut es nicht. Auf 85 Seiten mit vielen "wir wollen", "es ist wichtig", ganz wenig "wir werden" und erst recht nicht "bis zum". Aber das scheint keinen zu interessieren.
Doch zunächst gibt es Vorprogramm. Moderiert von Dunya Hayali. Am Morgen war sie noch im ZDF zu sehen. Als unabhängige Journalisten erklärte sie die Weltlage. Jetzt verkauft sie ein Projekt der Bundesregierung. Kokettiert damit, vor ein paar Stunden noch Gäste der Veranstaltung im Studio gehabt zu haben. Und die hätten sich so sehr auf die Kanzlerin gefreut.
Der Minister erhält das Wort. Etwas unbeholfen, schlaksig, wie ein großer Junge. "Das ist nicht meine, das ist eure, unsere Zukunftscharta!", ruft er in den Saal. Die Zuschauer fühlen sich ernstgenommen und applaudieren.
Nicht die dritte, vierte oder fünfte Welt gebe es, nur die eine Welt. Nicht nur einen Weltsicherheitsrat der UNO solle es geben, auch einen Zukunftsrat. Worte, die gut ankommen in der Halle.
Dann darf der unvermeidliche Bill Gates eine Videobotschaft sprechen. Es ist kurz vor 15 Uhr. Laut Zeitplan kommt jetzt die Kanzlerin. Die Fotografen tummeln sich unruhig vor der Bühne. Doch es ist noch nicht so weit. Fast entschuldigend bittet die ZDF-Moderatorin Antony Lake, Direktor der UNICEF, auf die Bühne. Der freundliche ältere Herr beschwört den Glauben an die Zukunft, die Macht der Jugend, ihre Zukunft zu bestimmen.
Aber Lake hat Pech. Die Veranstaltung ist längst hinter dem Zeitplan. Und draußen hat sie keine Lust mehr zu warten. Die öffentlich-rechtliche Journalistin schneidet ihm deshalb einfach das Wort ab. Man sei spät dran. Es folgt noch eine Lobeshymne. Merkel überzeuge so sehr im persönlichen Gespräch.
Der nette schlaksige Minister darf noch einmal das Vorprogramm geben. "Wir werden nicht untergehen, denn wir sitzen alle in einem Boot." Angesichts des Klimawandels ein gewagter Vergleich. In seiner Rede lobt er die Kanzlerin, die sich weltweit so sehr für Klimaschutz und Gerechtigkeit einsetze.
Die Gelobte selbst lässt sich derweil von ihrer Assistentin ihre Rede reichen. Überfliegt sie, gähnt. Malt Ausrufezeichen an den Rand. Die Worte zur Zukunft fordern für ein paar Minuten ihre Aufmerksamkeit.
Dann steht sie am Rednerpult. Und redet ganz im Sinne der Zukunftscharta. "Wir wollen", "es ist wichtig", "wir müssen in Zukunft darüber reden, dass...". Sagt Sätze, die unwidersprochen in die Halle mit der Fackelbeleuchtung gleiten, denn die, die da sind, hinterfragen heute nicht.
"Jeder einzelne auf der Welt hat das Recht auf ein menschenwürdiges Leben", doziert sie. Heute geht es um Näherinnen in Bangladesh, da denkt niemand an Hartz4-Empfänger und verarmte Rentner.
"Wir werden uns weltweit über gutes Regieren unterhalten müssen", so weist sie weiter die Weichen für die Zukunft. Die Frau, wegen der der UNICEF-Direktor die Bühne verlassen musste, ist sich sicher, dass deutsches Regieren das Maß der Dinge ist.
Und wer ihr genau zuhört kann dann doch heraushören, welche Chance die Ziele der heren Zukunftscharta selbst in ihrer Unbestimmtheit in der Realität der wahren Mächtigen haben.
In der letzen Klimakonferenz habe man sich auf Ziele bis 2030 geeinigt. "Ich weiß, dass Sie in der Zukunftscharta höhere Ziele formuliert haben. Wäre ja auch seltsam, wenn nicht." Die Aussage ist klar: Ihre Bemühungen sind nett gemeint. Machbar sind sie nicht.
Direkt bei den Kameras vor mir steht eine ältere Frau. Graue Kurzhaarfrisur, Brille, verkniffene Lippen. Mit dem Fuß zieht sie eine Linie an den Stativfüßen. Gleich wird die Kanzlerin wieder durch den Gang zwischen den Stuhlreihen hinauseilen. Die ältere Dame geht ihrem Job nach: Stative müssen um fünf Zentimeter zurückgeschoben werden. Damit die Kanzlerin ungehindert ihren Weg gehen kann.
Draußen frage ich eine junge Inderin, wie sie die Veranstaltung fand. Ihre Augen leuchten. "So etwas müssten viel mehr Länder machen!", ist ihre begeisterte Antwort.
Ich fühle mich traurig und einsam.
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